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Ehre dem Andenken der deutschen Einwanderer

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Bibliografie
Artikel Nummer: 0847
Autor Name: Josef Wolf
Titel des Artikels : Ehre dem Andenken der deutschen Einwanderer!
Untertitel des Artikels: Historischer Kontext und Erinnerungsstrategien der feierlichen Enthüllung von Stefan Jägers »Einwanderungsbild« vor hundert Jahren
Publikation: Zeitung
Titel der Publikation: Banater Post
Erscheinungsort: München
Jahrgang: 54
Nummer: 13/14
Datum: 10.07.2010
Seite: 6-7
* [[Josef Wolf]]: [[ART:0847 - Ehre dem Andenken der deutschen Einwanderer!|<i>Ehre dem Andenken der deutschen Einwanderer!</i>. Historischer Kontext und Erinnerungsstrategien der feierlichen Enthüllung von Stefan Jägers »Einwanderungsbild« vor hundert Jahren]]. Banater Post, München 10.07.2010 (Jg.54 Nr.13/14), S. 6-7

Historischer Kontext und Erinnerungsstrategien der feierlichen Enthüllung von Stefan Jägers »Einwanderungsbild« vor hundert Jahren


Stefan Jäger (Selbstporträt) - WK:0099
»Die Einwanderung der Deutschen ins Banat« Triptychon von Stefan Jäger - WK:0376
»Die Einwanderung der Deutschen ins Banat« Triptychon von Stefan Jäger - WK:0376
»Die Einwanderung der Deutschen ins Banat« Triptychon von Stefan Jäger - WK:0376

Vorbemerkungen

Im feierlich-poetischen Duktus lädt der Mercydorfer Dialekt- und Volksdichter Josef Gabriel (1853–1927) zur Enthüllung eines Bildes von öffentlicher Bedeutung ein:

„Es wird ja heut a scheenes Bild
Von ihrer Ankunft feierlich enthüllt.
Zu schaffe sin se komm her in des Land
Und was die Ahne han b’gonn mit fleiß’ger Hand,
Des han die Enkel treulich weiterg’führt.
„Gesegnet sei ihr Staab, dem Ehr gebührt!“

Gabriels Einladung nimmt auf das bekannte „Einwanderungsbild“ des Hatzfelder „Schwabenmalers“ Stefan Jäger (1877–1962) Bezug, mit dem dieser erstmals den künstlerischen Diskurs über das Herkunfts- und Kolonisationsthema in Gang setzte. Das „Einwanderungsbild“ ist heutzutage ein jedermann geläufiges Sinnbild banatdeutscher Gruppenidentität. In der Herausbildung der kulturellen und politischen Identität der Banatdeutschen kommt der historischen Erinnerung eine herausragende Rolle zu. Ein wichtiger Bezugspunkt stellt dabei die Erinnerung an die Anfänge dar.
Gabriels Gedicht „Zur Feier in Gyertyámos“ ist einer informationsreichen anlassgebundenen Publikation vorangestellt (Die Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen. Kurzgefasste Gelegenheits-Broschüre zur Bildenthüllung in Gyertyámos am 15. Mai 1910), die von einem der Akteure des Festakts, dem „Bauernvereinssekretär“ Stefan Dold, in der Temeswarer Druckerei von Leopold Csendes herausgegeben wurde. Nebst Presseberichten und Fotoaufnahmen stellt die der Öffentlichkeitsarbeit dienende Broschüre eine wichtige Quelle des Ereignisses dar. Ihr Autor, der Pädagoge und Wanderlehrer Stefan Dold (1869–1944), zählt qua Funktion zu den Hauptorganisatoren der wichtigsten Großveranstaltung der Banater Schwaben am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Nach seiner frühen Pensionierung wurde er vom mächtigen Interessenverband der banatschwäbischen Landwirte, dem Südungarischen Landwirtschaftlichen Bauernverein (SLB), zunächst aushilfsweise für Sekretariatsarbeiten herangezogen, bis er 1907 zum Sekretär avancierte und diese Funktion bis zum Kriegsende versah. In dieser Eigenschaft oblag ihm jahrelang die Redaktion des Verbandsorgans „Der Freimütige“ (1893–1918), dessen Schriftleiter und Herausgeber sein Dienstherr, war der stellvertretende Obmann des SLB und einflussreiche Direktor der Vereinsbank (Südungarische Landwirtschaftsbank) Franz Blaskovics (1864–1937). Publizistisch trat er mit einer kurzen Übersichtsdarstellung der josephischen Kolonisation in der Batschka hervor: Die Ansiedlung der Deutschen im Bácser Komitate unter Joseph II. 1783–1789, Temesvár 1906.
Die in der Forschungsliteratur enthaltenen Angaben differenzieren in der Regel nicht zwischen den beiden Ausgaben der Broschüre. Die erste Auflage ist äußerst selten anzutreffen. Das Tübinger Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde ist erst unlängst in den Besitz des wertvollen Gelegenheitsdruckes gelangt; eine Schenkung des Ehepaars Ewald und Maria Friedrich aus Mainz. Die zweite Ausgabe verdankt ihre Verbreitung einem von Anton Peter Petri besorgten undatierten Neudruck. Zwischen den beiden Ausgaben bestehen inhaltliche Unterschiede: Die erste Auflage enthält das Programm der Festlichkeiten, das in der zweiten Auflage von der Berichterstattung ersetzt wird. Sieht man vom Faltblatt ab, das der ersten Ausgabe beigelegt ist, bleibt der Umfang der Veröffentlichung (23 Seiten) unverändert.
Dem Gertianoscher Festakt liegen vorwiegend erinnerungsgeschichtliche, mithin politische Interessen zu Grunde, die sowohl in dem Beschluss der Auftragserteilung an den Künstler wie auch in den spezifischen Umständen der feierlichen Enthüllung des Monumentalgemäldes zutagetreten. Die Herausforderung, die von einer Momentaufnahme ausgeht, liegt vor allem in der Nachzeichnung der ursprünglichen Motive der historischen Akteure in der ihnen eigenen Handlungssituation. Die nachfolgende Rekonstruktion des Festakts ist daher auf den kulturellen und politischen Kontextbezug angewiesen, wobei im vorliegenden Rahmen die Beziehung zwischen dem Ereignis und den damals vorherrschenden regionalen und lokalen Gesellschaftsstrukturen bis zu einer vertiefenden Untersuchung allenfalls skizziert werden kann.

Das Enthüllungsfest

Ausgangspunkt des an den Künstler erteilten Auftrags war das hundertjährige Jubiläumsfest, das an die Ansiedlung der Gemeinde 1885 erinnerte. Die damals erschienene umfangreiche Monographie von Nikolaus Ludwig (Monographie der röm.-kath. Kirchengemeinde Gyertyámos. Herausgegeben anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Kirchen-Gemeinde Gyertyámos durch die Gemeindevorstehung, Temesvar 1885) schilderte eingehend auch die Ansiedlung. Schon damals reifte beim geistigen Initiator des Bildwerks, Adam Röser (1838–1914), der Entschluss, den Einwanderungsvorgang visuell festzuhalten und „zu verewigen“. Der Ziegeleibesitzer, Direktor der lokalen Sparkasse und Mitbegründer des Gertianoscher Konvikts in Szegedin „erkannte […] die Wichtigkeit, welche dem Bilde zukommt, dass es besser als das gedruckte Wort im Stande sei, auf das Gemüth zu wirken“. Röser, dem der Heideort mehrere kulturelle Einrichtungen zu verdanken hat, scheute auch keine materiellen Opfer für die Verwirklichung seiner Idee. Maßgeblich an der Finanzierung des Gemäldes beteiligt, unterstützte er den Künstler bei der Durchführung des Auftrags nicht uneigennützig. Die Bildenthüllung erfolgte im Rahmen der Festlichkeiten, die von dem SLB zu Pfingsten 1910 in Gertianosch unter lokaler Mitwirkung veranstaltet wurden. Das Programm umfasste mehrere Ausstellungen: eine Gewerbe-, eine Maschinen- und Handarbeitsausstellung am ersten und eine Pferde- und Hornviehausstellung am zweiten Pfingsttag. Am Festakt des Bauerntages (mundartlich Bauretach) nahmen etwa 5.000 Gäste teil, die laut Gabriel vor allem „aus [der] Bácska, Bergsau und der Heed“ kamen.
Die frühmorgens angereiste Vereinsleitung und die Ehrengäste wurden am Bahnhof empfangen und in das vis-à-vis der Kirche liegende Ortsvereinslokal begleitet. Um 7.30 Uhr erfolgte der gemeinsame Abmarsch zum Ausstellungsgelände, wo eine halbe Stunde später die Gewerbeausstellung eröffnet wurde. Die feierliche Enthüllung des Bildes „Die Einwanderung der Deutschen nach Ungarn“ – so die endgültige Ursprungsbezeichnung des im Veranstaltungsprogramm noch unter dem Titel „Die Einwanderung der Deutschen in (!) Südungarn“ angekündigten Werkes – fand im Rahmen der Gewerbeausstellung statt. Nach der Einweihung des Bildes fand sich die Vereinsführung bei den Fahnenmüttern des Bauernvereins und der Gewerbekorporation ein, um gemeinsam feierlichen Einzug in die Kirche zu halten, wo um 10 Uhr im Rahmen des von Blaskovics zelebrierten Hochamts die Fahnenweihe des Ortsvereins des SLB und des Gewerbes erfolgte. Gästen und Publikum sollte aber auch ein Stück Unterhaltungskultur geboten werden. Nach dem Festbankett im Gewerbekasinolokal Georg Müller setzte am Nachmittag das Volksfest an, und der „Gyertyámoser Männergesangverein“ gestaltete einen „gemütlichen Abend“.
Die unter dem Leitspruch „Ehre dem Andenken der deutschen Einwanderer!“ stehende Enthüllungsfeier des Gemäldes verfügte zwar über die erforderliche massenwirksame Ausdrucksfähigkeit für die vom Künstler und von den Auftraggebern erwünschte kollektive Repräsentations- und Identifikationsfunktion des Gemäldes. Dennoch, die Motive des politischen Interesses sind weniger in der Intention, Organisation und Gestaltung des Festaktes greifbar, als sie in den inhaltlichen Akzenten der Hauptrede und der anlassgebundenen Begleitbroschüre hervortreten. Die Rede des Abt-Domherrn und stellvertretenden Obmanns des SBV Franz Blaskovics, – Präsident der Organisation war der Reichstagsabgeordnete des Neusanktannaer Wahlkreises und Eleker Sparkassendirektor Johann Wittmann (1856–1924) – bildete den Höhepunkt der Enthüllungsfeier. Die Leitidee der Festrede bestand in der Gegenüberstellung der trostlosen wirtschaftlichen und demographischen Verhältnisse im Banat zum Zeitpunkt der österreichischen (Rück-) Eroberung und der blühenden Landschaft der Gegenwart, an deren Gestaltung die Einwanderer und ihre Nachkommen maßgeblich beteiligt waren. Blaskovics entwarf ein Geschichtsbild, das biblische Gleichnisse für die Veranschaulichung der paradiesischen Raumvorstellungen der Einwanderer heranzog. „Die Ahnen seien so wie einst die Israeliten durch die Wüste, in ein Land der Milch und des Honigs eingezogen“. Er erwähnte die beschwerliche Reise im vormodernen Kommunikationszeitalter und bemühte den in Historiographie und Öffentlichkeit dominanten Diskurs für die Schilderung des Zustands der „Verwüstung“, den das osmanische Herrschaftssystem hinterlassen hatte. Zweitens wandte sich der Festredner dem Leistungsaspekt banatdeutschen Daseins zu. Um dem Mythos tausendjähriger Herrschaft, der sich mit der politisch instrumentalisierten ungarischen Millenniumsfeier (1896) etablierte, etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen, erinnerte er an die mit der deutschen Einwanderung unmittelbar verbundenen wirtschaftlichen Leistungen und verglich die „armseligen Lehmhütten“ der neu entstandenen Siedlungen mit den „modernen Bauernhäusern“ seiner Zeit als sichtbaren Ausdruck des erreichten Wohlstands. Zugleich bot der heimliche Leiter des Bauernverbands eine populäre, organizistisch durchtränkte und gleichsam politische Lesart des eingeweihten Kunstwerks: „Das Bild führt uns so lebhaft vor Augen, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinandergreifen. Wenn wir das Bild genau betrachten, wie die Ahnen die Heimat verlassen, um als Kulturpflanze in ein anderes, vom Kriege verwüstetes Land verpflanzt zu werden, so ersehen wir daraus, dass es dem Menschen gerade so ergeht wie dem Baume, der edle Früchte trägt. Finden wir irgendwo eine edle Frucht, so trachten wir sie auch bei uns zu verpflanzen. Die aus anderer Erde, anderem Klima hierher gebrachte Pflanze wird nur dann Früchte tragen, wenn sie sich bei uns heimisch fühlt, wenn sie sich bei uns akklimatisiert. So ist es auch bei dem Menschen, der eine neue Heimat sucht.“ Aus der historischen Entwicklung des Veranstaltungsortes schloss Blaskovics, dass die Nachkommen der Einwanderer „sich vollkommen akklimatisiert haben“ und sich ihre eigene Umwelt – „eine blühende Umgebung“ – geschaffen haben. „Akklimatisation“ bedeutete für ihn und seine Zuhörer, in der neuen Heimat Fuß fassen, in die Gesellschaft des Ziellandes hineinwachsen, sich eingewöhnen. Wir haben es eigentlich mit einem Ausdruck zu tun, der dem Verständnis des heutzutage zusätzlich theoretisch reflektierten Begriffes von „Integration“ sehr nahekommt.
Der rhetorisch begnadete Hauptredner hat seine Aufgabe sowohl im Wertbezug zur geschichtlichen Vergangenheit als zur politischen Gegenwart und Zukunft erfasst. Daher nahm er auch den Anlass wahr, um Geschichte und Politik im vorgesehenen Enthüllungsszenarium bühnenhaft und manipulativ zusammenzuführen. Der Redetext offenbart ein dem klassisch-humanistischen Bildungsideal entsprechendes Verständnis von Geschichte: „So dient uns die Vergangenheit als Lehre für die Zukunft.“ Eine letzte Leitidee seiner Rede war angesichts der zunehmenden nationalitätenpolitischen Auseinandersetzungen mit den regionalen Hauptethnien – Rumänen und Serben – die unverrückbare Loyalität zum Staat: Die Wahlheimat der Vorfahrern sei längst zur Heimat der Nachkommen geworden. Der Festredner legte Wert auf die patriotische Gesinnung der Ortsbewohner, die „mit ganzem Herz und ganzer Seele dem ungarischen Vaterlande angehören“. Nebst Gottesverehrung und Bürgersinn erachtete er „die Anhänglichkeit zum ungarischen Vaterland“ als eine Kardinaltugend, die der heranwachsenden Jugend eingeimpft werden sollte. Der starke Assimilationsprozess des deutschen städtischen Bürgertums und der „magyaronisch“ eingestellten ländlichen Oberschicht, dem eine vorbehaltslose Loyalitätshaltung Vorschub leistete, blieb dabei unerwähnt. Bis zu seiner Ernennung zum Domherrn der Tschanader Diözese vertrat der liberal gesinnte Vereinsfunktionär und Agrarpolitiker den Orczydorfer Wahlbezirk für zwei Legislaturen (1896-1904) im ungarischen Reichstag. Der Schulinspektor der Tschanader Diözesanschulen und Leiter der kirchlichen Zensurbehörde wusste, welche inhaltlichen Schwerpunkte von den anwesenden Repräsentanten der Staatsmacht erwünscht waren und in der magyarischsprachigen Öffentlichkeit Anerkennung fanden. In die gleiche patriotisch-nationale Kerbe schlug auch Dold, der Herausgeber der „Gelegenheits-Broschüre“, indem er – ähnlich wie Gabriel – der in Versen seine „teure Lieb zum Ungarland“ beteuerte, seinen „patriotischen Gefühlen“ Ausdruck verlieh, die eingewanderten Schwaben als „die gefügsamste Nationalität in diesem polyglotten (vielsprachigen) Landesteile“ bezeichnete und sie als die „besten Patrioten“, ja sogar „die besseren Ungarn“ darstellte. Das plakative Loyalitätsbekenntnis von Blaskovics und Dold kann auch als deutliche Replik zur neuen minderheitenpolitischen Auffassung von Teilen der nationalbewussten deutschen Intelligenz gedeutet werden. Nach Gründung der Ungarländischen deutschen Volkspartei (UDVP) Ende 1906 wurde ein Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Deutschen in Ungarn erreicht. Die junge Emanzipationsbewegung hat neue politische Akzente im Verhältnis zum ungarischen Nationalstaat angeschlagen. Dieser wiederum versuchte die auch bei den Deutschen eingetretene und für die staatliche Kohäsion als verhängnisvolle eingestufte Entwicklung zu seinen Gunsten zu steuern. Aber gerade von dem der Öffentlichkeit vorgestellten Gemälde sollten Wirkungen in die entgegengesetzte Richtung ausgehen: Es sollte letztendlich nicht der Konsolidierung staatlicher Loyalität dienen, sondern der Herausbildung ethnonationaler Gruppenidentität. Die damals der Staatsnation „bis in die Ewigkeit“ geschworene Treue sollte sich nur von kurzer Dauer erweisen. Der Zusammenbruch der Donaumonarchie 1918 und der anschließende politische Ethnisierungsprozess der Deutschen im ehemaligen Ungarn erforderte eine Neupositionierung der politischen Eliten in den Nachfolgestaaten des Länderkomplexes der Stephanskrone.

Eine Bildauslegung aus berufenem Munde

Der Verfasser der „Gelegenheits-Broschüre“ bietet eine kurze Beschreibung des enthüllten Gemäldes, der eine ausführliche Erläuterung der auf die zweite und dritte Hauptphase der Ansiedlung bezugnehmenden Bildmotive vorausgeht. Dabei legt er die wesentlichen visuellen Inhalte fest, die die Aufmerksamkeit des Betrachters fesseln konnten: „Das Originalbild ist ein sechs Meter langes und zwei Meter hohes Ölgemälde in drei Teilen und stellt uns in einer künstlich und historisch treuen Ausführung drei Momente dar. Erstens: Am Wege der Wanderung. Zweitens: Rast beim Ankommen in der neuen Heimat. Drittens: Die eigentliche Ansiedlung.“ Die von Dold angegebenen Maße haben die wissenschaftliche Diskussion über das in Gertianosch enthüllte Bild bis in die Gegenwart genährt. Es lag in der Absicht der Auftraggeber, dass das Kunstwerk „einem Museum gewidmet werden sollte“. Das heute im Foyer des Adam-Müller-Guttenbrunn-Hauses in Temeswar ausgestellte Bild weist nämlich davon abweichende Maße (510 x 145 cm) auf. Das Originalbild wurde noch während des Ersten Weltkriegs an das Städtische Museum Temeswar veräußert.
Auf Grund seiner zahlreichen zeichnerischen Entwürfe konzipierte Jäger drei Bilder, die im Dreiklang der Motive und ihrer gleichnishaften Symbolik den Verlauf der Ansiedlung veranschaulichen sollten. Der gotische Flügelaltar, das Triptychon, mit seinem Hauptstück in der Mitte und den schmaleren Seitenteilen, bestimmt die Gliederung der Bildfläche. Es war weniger die ästhetische Lösung für Jägers Historienbild, die im Rahmen der akademischen Malerei entwickelt wurden, als vielmehr erzieherische Zielsetzungen, die dem Werk zugrundelagen. Der ästhetische Ansatz kann weder als zeitgerecht noch als zukunftsfähig erachtet werden. Die Stilrichtung, der sich der junge Künstler verpflichtet sah, hatte in der Kunst der damaligen Zeit nichts mehr zu sagen, im Rahmen der Historienmalerei war sie aber weiterhin dominierend. Jägers Ausdruckspotential aktiviert klassische künstlerische Positionen, ohne zu experimentieren. Künstlerische Auseinandersetzungen waren für den Maler – und zumal noch in einer Auftragsarbeit – nicht von Belang: Er ließ sich von der Routine des Zeichnens und Malens leiten; vom gewaltigen Umbruch in der Kunst seiner Zeit ist im „Einwanderungsbild“ nichts zu spüren. Ausschlaggebend war die Wahl des Stoffes und nicht die Kraft der Darstellung mit künstlerischen Stilmitteln.
Auf die Szenen des Historienbildes und die Hauptprobleme der künstlerischen Darstellung soll hier nicht eingegangen werden. Für die historische Erklärung ist es jedoch nicht ausreichend, allein das „Einwanderungsbild“ als Inszenierung zu lesen, auch die visuelle Intuition eines seiner wichtigsten Erstbetrachter soll im Folgenden in Bezug zu seinem Textkommentar gesetzt werden. Denn der künstlerische Diskurs über die Geschichte der Ansiedlung fand ihre Fortsetzung im Text.
Nebst spärlicher neuerer Fachliteratur beruhen Stefan Dolds Ausführungen zur Ansiedlung auf der weitverbreiteten, 1822 in Pest erschienenen und selbstbiographische Züge tragende Veröffentlichung des Neusiwatzer Gemeindenotars Johann Eimann (1764–1847) „Der Deutsche Kolonist oder die deutsche Ansiedlung unter Kaiser Josef II. in den Jahren 1783 bis 1787 besonders im Königreich Ungarn in dem Batscher Komitat“, der er auch für seine Publikation über die josephinische Ansiedlung wesentliche Informationen und Erläuterungen entnommen und diese auf den Kolonisationsvorgang im Banat übertragen hat. Er betont den kaiserlichen „Ruf in die neue Heimat“, dem die Reichsauswanderer gefolgt seien, und unterschlägt die sozialen Gründe und existentiellen Nöte, die viele Wegziehende gezwungen hatten, den Wanderstab in die Hand zu nehmen. Um die Einwanderer vom Makel der niederen Abkunft und sozialen Kondition zu befreien, der ihnen im vorherrschenden nationalungarischen Geschichtsbild anhaftete, wird das von Kaiser Joseph II. erlassene Patent als „offener landesherrlicher Bevorrechtigungsbrief“ gedeutet. In knappen Sätzen beschreibt er die Etappen der „Wanderschaft“ und die „Ankunft“ im Banat. Der Vereinssekretär kehrte in seinen Ausführungen stark die von den Einwanderern erfahrene staatliche Unterstützung hervor, ohne dabei dem Mythos des „barmherzigen Kaisers“ das Wort zu reden oder sich etwa zu großösterreichischen Ideen offen zu bekennen. Dabei mutierte das Antizipationsbüchlein, in das sämtliche Vorschüsse und Schulden der Kolonisten gegenüber der Herrschaft eingetragen wurden, zum Stamm-Ansiedlungsbuch. Der Abschnitt „Ansiedlung“ liest sich wie ein Kommentar zum dritten Teilstück des Triptychons: „Als sämtliche Ansiedler der neuen Ortschaft beisammen waren, erschien in ihrer Mitte der Betraute des Ansiedlungs-Rentamtes. Er stellte und ordnete alle Familienväter nach Nummer ihrer Büchel in Reih und Glied und übergab einem jeden seinen Hausplatz für Erb’ und Eigentum.“
Der Verfasser der „Gelegenheits-Broschüre“ stellt Siedlungsbau und Sesshaftwerden als einen geradlinigen reibungslosen Prozess dar und listet die „Benefizien“ auf, in deren Genuss die Einwanderer beim Hausbau, Ausstattung der Ansässigkeit und durch Steuerbefreiung kamen. Abschließend beschreibt er die materiellen institutionellen Grundlagen der „neuen Gemeinden“ und führt die „größten und schönsten deutschen Ortschaften“ an, welche im Banat im Zuge der Kolonisation entstanden waren. Hinsichtlich des Ansiedlungsvorgangs waren weder Gertianosch noch der zentrale Nachbarort Hatzfeld für die dargebotenen Befunde und Merkmalsbeschreibungen typisch. Der Stifterort des Einwanderungsbilds wies eine im Vergleich zu den aus „wilder Wurzel“ entstandenen Siedlungen abweichende Entwicklung auf. Erst die Aufgabe des Ortes durch die 1766 hierher bei der Errichtung von Sackelhausen zwangsumgesiedelten Rumänen und Serben ermöglichte den Zuzug Hatzfelder Familien. Mit der Zuweisung von Reichseinwanderern 1784 erfuhr die Binnensiedlung eine Erweiterung. Wenige Jahre nach dem Festakt in Gertianosch, mitten im Weltkrieg, feierte Hatzfeld sein 150-jähriges Ansiedlungsjubiläum. Der Autor der unter dem Pseudonym „Müller-Thoreße-Pheder seim Sohn“ herausgegebenen Festschrift (Unser Jubeljahr. Denkschrift anlässlich des 150-jährigen Bestandes der Großgemeinde Zsombolya 1766–1916, Budapest 1916), Franz Kaufmann (1848–1921), wich von der feierlich-idealisierenden Darstellungsweise der Textgattung unübersehbar ab. Der Buchdrucker und Mitbegründer der Hatzfelder Gewerbekorporation lieferte ein durchgängig kritisches Bild der Anfänge seines Heimatortes. Erstmals wurden die „unglaublichen Schwierigkeiten“ des durchaus von Konflikten durchzogenen Ansiedlungsvorgangs beim Namen genannt. Die Ausführungen Dolds zeigen, dass das „Einwanderungsbild“ nicht an lokal identifizierbare, sondern an regionale Vorgänge gebunden ist. Seine Enthüllung ist mit keinem lokalen Jubiläumsdatum verbunden, wobei sich im zeitlichen Kontext auch keine runden Gedenkjahre anboten. Dieser Umstand förderte die regionale und überregionale Identifikation mit dem Kunstwerk.

Authentizität des Einwanderungsbildes

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Die Enthüllung des Triptychons war eine Veranstaltung mit symbolischer Zielsetzung, der eine identitätsstiftende erinnerungsgeschichtliche Signifikanz zukommt. Diese resultiert aus einem ethnisch und kulturell definierten Gemeinschaftsbegriff. Verstand sich der SBV als ethnisch definierte wirtschaftliche Interessengemeinschaft, so hatte das „Einwanderungsbild“ die Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft als Grundlage der zukünftigen politischen Schicksals- und Interessengemeinschaft – der „Volksgemeinschaft“ deutsch-schwäbischen Zuschnitts – fest im Blick. Die politische Ethnisierung der Banater Schwaben umfasste zum damaligen Zeitpunkt nur eine elitär ausgerichtete Bewegung mit noch wenig gesellschaftlichem Rückhalt in der ländlichen und städtischen Bevölkerung.
Stefan Dold hat die Bildinhalte in wenigen Zügen und unverkennbarem Gegenwartsbezug beschrieben: „Am Bilde sehen wir die aus verschiedenen Gegenden stammenden Leute in einer Gesellschaft. In der Tracht schlägt die rote und blaue Farbe hervor. Drei charakteristische Eigenheiten lassen sich vom Bilde herunterschauen: Unsere Ahnen trugen weder Schnurr- noch Backenbart; sie rauchten nicht; sie liebten den Kindersegen“ [Anspielung auf den unverkennbaren Rückgang der Geburtenrate im Zusammenhang mit dem sogenannten demographischen Übergang – Anm. von J. W.]. Angesichts der historischen Überlieferungsvoraussetzungen von kollektivem historischem Bewusstsein wurden Herkunft, Sprache und Alltagshabitus als Identifikationsmerkmale der ethnischen Gruppe insgesamt aufgefasst. Der Künstler selbst setzte Tracht als Erkennungsmerkmal von Zugehörigkeit und Symbol von Herkunftsvielfalt ein, bildeten die Ansiedler doch „ein buntes Mischmasch der verschiedenen Gewohnheiten, da sie doch verschiedenen Gegenden des deutschen Reiches entstammten“ – so der Autor der „Gelegenheits-Broschüre“. Dessen Anmerkungen zur lokalen Mundartbildung und Trachtenvielfalt speisen sich nicht nur aus der generationellen Überlieferung der Siedlererfahrung, sondern auch aus der Betrachtung des Gemäldes. Vor allem die „sehr mannigfaltige“ und „höchst komisch“ aussehende Tracht der Einwanderer verblüffte die eingesessene Bevölkerung: „Die Weiber waren eben keine Modedamen und die Männer zogen auch in ihrer urheimischen Kluft daher. Die Mannsbilder hatten durchgängig dreieckige, spitzaufgestülpte Hüte, lange Tuch- und Leinröcke, meistens kurze lederne Hosen, Strümpfe von verschiedenen Farben und Schuhe mit Schnallen. Die Weiber trugen verschiedenartig geformte Hauben, schöne Röckel, Kütteln von Tuch, welche auf einer dicken Wulst um die Hüften herum hingen und ziemlich kurz waren, dann eine sehr schmale Schürze, bunte Strümpfe und hochbeabsatzte Schnallenschuhe“. Dold eignete sich das vom Künstler entworfene Konstrukt an und legte Wert auf die Kennzeichnung der Herkunftsgebiete auf der beigefügten Illustration der vervielfältigten Abbildung des „Einwanderungsbildes“. Der geschäftstüchtige Adam Röser hatte bei der Budapester Verlagsgesellschaft Franklin Farbreproduktionen in großer Auflage herstellen lassen und vertrieben, die gerahmt zunächst Eingang eher in Privatsphäre national selbstbewusster Bürger als in den öffentlichen Raum fanden. Die Wirklichkeitserfahrung des Malers war durch die mündliche Überlieferung und die Eindrücke seiner 1906 unternommenen zweiten Dokumentationsreise in den südwestdeutschen Herkunftsgebieten der Banater Kolonisten bestimmt. Diese war erforderlich, weil bei den Auftraggebern Zweifel an der Authentizität des Abgebildeten aufkamen. Kurze Zeit nach der Auftragserteilung lieferte Jäger eine erste, vermutlich schon 1905 fertiggestellte Version des Einwanderungsmotivs.
Das drei Meter breite und in der Forschung unter der Bezeichnung „Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn/Banat“ bekannte Gemälde gilt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen. Die Auftraggeber, vor allem Johann Walzer, Direktor der Gertianoscher Kleinbauernkassa, beanstandeten die Ausführung der historischen Trachten, die die dargestellten Figuren umhüllten. Der Künstler sah sich vor ein schwieriges Problem gestellt. Es gibt kaum Bildquellen über die Einwanderer; auch die Generation der Erstansiedler war nicht mehr als Zeugen befragbar. In den Herkunftsgebieten der Einwanderer war die alte Tracht auch schon verschwunden, allenfalls in Bibliotheken und Museen konnten Trachtenblätter und andere Bilder eingesehen werden.
Wie wirkmächtig Stefan Jägers Staffage-Inszenierung bis in die Gegenwart ist, zeigt die Vorgangsweise der Neupanater Trachtengruppe, die beim jüngsten Heimattreffen der Banater Schwaben in Ulm die Reise mit einem „Auswandererschiff“ in Szene setzte. Die Organisatoren hielten es überhaupt nicht mehr für nötig, die Authentizität der vom „Schwabenmaler“ gelieferten Trachtendarstellung zu hinterfragen und legten ihrer eigenen, sich explizit an das „Einwanderungsbild“ anlehnenden Vorführung die aus der Betrachtung des Gemäldes gewonnenen Erkenntnisse als gesichertes dokumentiertes Wissen zugrunde. Die verwendeten Trachten wurden naiverweise entsprechend der Vorlage des Künstlers teils nachgeschneidert (siehe Banater Post Nr. 12, Seite 3). Die Eingliederung der ein urkomisches Kauderwälsch sprechenden Neuankömmlinge betrachtete Dold unter dem Gesichtspunkt gruppenspezifischer „Charakter“-Bildung. Wesentliche Elemente in diesem Prozess stellten für ihn Dialektformierung, „Angewöhnung“ an die neue multiethnische Umwelt und Herausbildung wirtschaftlicher Leistungsmerkmale dar.
Dem aus Brestowatz / Banatski Brestovac stammenden Autor ist zugute zu halten, dass er ein waches Auge für die ethnische Umwelt der Einwanderer hatte und in seinem Kommentar auch die Sicht der interethnischen Beziehungen ins Gespräch bringt. Es war ihm nicht entgangen, dass der Maler die Anwesenheit der eingesessenen Bevölkerung unter den über 80 dargestellten Figuren und somit die einleitend intendiert hervorgehobene Multiethnizität und Vielsprachigkeit der Region unberücksichtigt ließ, wenn diese in einigen Aquarellskizzen auch nicht ganz aus dem Blickfeld verschwunden war: „Die deutschen Ansiedler brachten ein neues Leben in die Gegend, schon darum, weil sie die Aufmerksamkeit der Einheimischen eine Zeit lang an sich gezogen hatten. Alles belauschte und betrachtete das fremdartige Handeln und Wandeln der neuen Brüder. Die besonderen Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten, die Lebensweise – kurz der Charakter der Ansiedler – war stets ein Gegenstand allgemeiner Bewunderung.“
Jägers Einwanderungsbild zeigt, wie die mariatheresianische und josephinische Ansiedlung im beginnenden 20. Jahrhundert gesehen und wahrgenommen wurde. Natürlich setzt der Maler auf malerisch erzeugte, letztendlich vorgetäuschte und konstruierte Authentizität und Emotionen, die durch die bewusste und unbewusste Wahrnehmung seines Kunstwerks und die Interpretation der dargestellten Situation oder einzelner Objekte und Figuren ausgelöst werden. Das Triptychon ist eine künstlerische Konstruktion, die mit strikter historischer Genauigkeit naturgemäß nicht zu vereinbaren ist. Darin unterscheidet sie sich von historischen Untersuchungen, für die die dokumentarische Genauigkeit in den Tatsachen zwar verpflichtend ist, wenn auch weltanschaulichen Vorstellungen, historischer Imagination und sonstigen Vorprägungen im Deutungsprozess eine wichtige Rolle zukommt. Trotz der unterschiedlichen Form der Darstellung, eines haben aber Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst: sie „erfinden“ erzählend Geschichte, jeweils mit den eigenen medialen darstellerischen und narrativen Mitteln.
Auch der Schriftsteller und Volkstumsideologe Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923) verfährt in seinen Siedler-Romanen nicht anders als der Maler Stefan Jäger. Die literarische Handlung scheint auf den ersten Blick ausschließlich an überlieferte Tatsachen gebunden. Eigentlich behandelt er den Ansiedlungsvorgang so, dass er in die Behandlungsweise seines Stoffes passt, und fühlt sich nicht verpflichtet, sich an die Fakten der zeitgenössischen Geschichtsschreibung zu halten. So können Zusammenhänge, die für die historische Erklärung von wesentlicher Bedeutung sind, ausgeblendet werden. Das heißt nicht, dass sowohl Stefan Jäger als auch Adam Müller-Guttenbrunn als wichtigste nichthistoriographische Erzählinstanzen kein plausibles Bild von der Realität vermitteln konnten – nur eben so, wie ein Gemälde oder ein Roman wichtige Erkenntnisse auf der nichtfaktischen Ebene vermitteln und dazu noch eine enorme emotionale Kraft entfalten kann. Die faktischen Ungenauigkeiten sind auch nicht wichtig, solange uns klar ist, dass die Werke beider Autoren keine Wiedergabe blanker Wirklichkeit sind, sondern Konstruktionen, deren aufklärerische Funktion begrenzt ist. Trotzdem ist gegen das zeitgenössische Urteil von Franz Blaskovics – einer der ersten Interpreten des Einwanderungsbildes – kaum etwas einzuwenden: „Die Erinnerung an unsere Ahnen hätte die jetzige Generation nicht schöner zum Ausdruck bringen können als durch die Schaffung eines Bildes.“ Der Politiker verleiht nämlich der kollektiven Gedächtnisfunktion im Prozess sozialer und kultureller Identitätsbildung Vorrang vor allen anderen.
Das Einwanderungsbild war das Auftragswerk einer im Entstehen begriffenen politischen Gemeinschaft – jene der Banater Schwaben. Diese Gemeinschaft begab sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf die Suche nach einem Gründungsmythos. Bei der Umsetzung seiner Vorstellungen über die Zeit der Ansiedlung in Bilder folgte Jäger der traditionellen akademischen Kunsttheorie, die sich im Dienst einer höheren Wirklichkeit verstand. Das Bild müsse nämlich „Natur und Wahrheit“ besitzen. Karl-Hans Groß (Stefan Jäger. Maler seiner heimatlichen Gefilde, Sersheim 1991) hat sich zwecks Deutung des Einwanderungsbildes dem Werkprozess zugewandt, um die Untersuchung des Gemäldes zu objektivieren. Er schlussfolgert, dass der Maler dem Betrachter genau konstruierte Bilder vorlegt, die mit seiner Wirklichkeitserfahrung übereinstimmten. Dem Maler sei es gelungen, die Darstellung in ein plausibles Verhältnis zur historischen Wirklichkeit zu setzen. Jägers Bild zeigt jedoch nur, wie ein historischer Prozess im Medium Malerei um 1900 wahrgenommen wurde. Die Darstellung berücksichtigt eine zeitlich - räumliche Entwicklung (Wanderung, Rast, Ankunft). Der Wanderungsvorgang wird somit auf Reise und Ankunft reduziert. Die Plätze, die Jäger festhält, sind zwar nicht näher präzisiert, sie sind jedoch, wenn nicht auffindbar, so doch denkbar. Künstlerische Motive haben nur dann eine Bedeutung, wenn sie deutlich als Allegorien gekennzeichnet sind, in denen sich die Vorstellungswelten des Malers und seiner Rezipienten verdichten. Schließlich behandelt Kunst die Ansiedlung als ein den normalen Verfahren der Geschichtsschreibung entzogenes Ereignis mythischer Qualität. Die eindrucksvolle Wirkungsgeschichte dieses Bildes zeigt, wie Einwanderung zur Legitimation bestimmter Ideen und Wunschvorstellungen herangezogen wurde und die Erinnerungskultur der Banater Schwaben bis heute prägt.

Identitätsbildung und Erinnerungskultur

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Die politische Bedeutung der Gertianoscher Enthüllungsfeier ist in engem Zusammenhang mit den inneren Zuständen der Deutschen im Banat zu betrachten. Der SLB bot den institutionellen Rahmen für die feierliche Enthüllung. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert repräsentierte er ein neuartiges, wirtschaftspolitisch aktives und gesellschaftlich dynamisches Element in der banatschwäbischen Gesellschaft. Auf dem Gertianoscher Bauerntag trat der SLB jedoch nicht nur als wirtschaftliche Interessenvertretung auf, sondern als regional potente und staatserhaltende politische Organisation und Alternative zur politisch ausgegrenzten UDVP. Der Festakt zur Bildenthüllung wurde von der Leitung des Bauernverbands gezielt als Mittel der ethnischen Selbstdarstellung eingesetzt, wobei deren Vorstellungen von Gruppenexistenz und Nationalitätenpolitik gemäßigter waren und erheblich von der politischen Programmatik der auf kulturelle Autonomie ausgerichteten Volkspartei abwichen. Den Repräsentanten der Staatsmacht und der regionalen Öffentlichkeit sollte durch eine Massenveranstaltung die Existenz einer zahlreichen, wirtschaftlich leistungsfähigen, kulturell kreativen selbstbewussten Minderheit erinnerlich gemacht werden. Das „Schwabenvolk“ sollte vom Staat als regionaler und lokalpolitischer Machtfaktor nicht mehr unterschätzt werden.
Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie und die territorialpolitische Neuordnung 1918/20 zerstörte auch den territorialen Zusammenhang des im Ergebnis von der Ansiedlung entstandenen regionalen Siedlungs- und Kommunikationsraumes. Das überlieferte wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Interaktionsnetz löste sich schlagartig auf. Die sozialpolitische Wirkung der als willkürlich empfundenen Grenzziehung lassen sich besonders am Beispiel Hatzfelds aufzeigen.
Das in der ungarischen Gründerzeit aufblühende Heidestädtchen lag im Berührungsraum des geteilten Siedlungsgebiets und übernahm von 1918 bis 1924 als politisches Zentrum der Deutschen im südslawischen Banat eine bedeutende Kommunikationsfunktion. Im damaligen minderheitenpolitischen Kontext setzte die Zweihundertjahrfeier der Ansiedlung 1923 in beiden Nachfolgestaaten – Rumänien und Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (so die amtliche Bezeichnung des neu entstandenen Gebildes) – ungeahnte nationale Energien frei. Obwohl kein heroisches Sinnbild, wurde das Triptychon als ein Symbol wahrgenommen, das eine emotionsgeladene Beziehung zum erinnerten geschichtlichen Ereignis freisetzen konnte. Gerade die sinnliche Ansprache des Betrachters übte großen Einfluss auf das bäuerliche Publikum aus. In wenigen Jahren steigerte sich das monumentale Ölbild zum schwäbischen Nationalheiligtum. Bei den Feierlichkeiten in Temeswar (8.–9. September 1923) zählte das Monumentalbild neben dem inszenierten Trachtenzug zu den Hauptattraktionen.
Zur politischen Symbolbildung hat auch die Verwicklung des Kunstwerkes in lokale Auseinandersetzungen von landesweiter Resonanz mit den serbischen Behörden im Jahre 1923 beigetragen. Nach einem Zusammenstoß mit Sicherheitsorganen im Hatzfelder Bauernheim auf der damaligen König-Alexander-Gasse begaben sich mehrere Polizeibeamte „ins Nebenzimmer, woselbst ein Bild des Kunstmalers Jäger, betitelt Die Einwanderung der Schwaben nach Ungarn, und welches vor vielen Jahren gemalt wurde, von der Wand gerissen“ (Hatzfelder Zeitung vom 8. April 1923, Seite 1). Der minderheitenpolitisch relevante Vorfall hatte ein offenes Schreiben des Hatzfelder Ortsverbandes der Partei der Deutschen im Königreich Südslawien an den Obergespan des Komitates Torontal-Temesch und an die Lokalorgane der Staatsmacht zur Folge. Zur öffentlichen Kenntnis des Einwanderungsbildes trug insbesondere der von Johann Keks herausgegebene Kulturbund-Kalender 1924 bei. Die Illustration zum Kalender wurde größtenteils von Stefan Jäger selbst geliefert. Die Titelseite ist signifikanterweise mit dem Einwanderungsbild geschmückt, das in der Scheibe der aufgehenden Morgensonne „die drei Heiligtümer des Schwabentums als Inschrift trägt, namentlich: Muttersprache, Heimat, Väterglaube“. Damit war auch die politische Programmatik in zeitlos erachtete Glaubensnormen nationalpolitischen Verhaltens umgesetzt.
Die Entstehung des Einwanderungsbildes ist mit dem gesteigerten Stellenwert von „Herkunft“ im kollektiven Bewusstsein der Banater Deutschen in einer entscheidenden historischen Entwicklungsphase eng verbunden. In der ortsmonographischen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts kam dem Ahnen-Diskurs eine wachsende Bedeutung zu: Ortsgeschichte entwickelte sich zusehends zur „Ahnengeschichte“, Herkunfts- und Ansiedlungsgeschichte. Dieser Themensetzung trug auch Literatur und Kunst Rechnung.
Zur Rezeption und Breitenwirkung des Gemäldes vor allem unter der Dorfbevölkerung hat seine frühe Vervielfältigung beigetragen. Zur vollen medialen Wirksamkeit und öffentlichen Geltung sollte es jedoch erst in der nach dem Ersten Weltkrieg radikal gewandelten politischen Konstellation kommen. Als wichtiges Moment der ethnopolitischen Gruppenbildung trug die Zweijahrhundertfeier der Ansiedlung 1923 entscheidend zur erinnerungspolitischen Funktionalisierung des Bildes bei. Bei den mit politischen Zeichen- und Symbolsetzungen verbundenen Feierlichkeiten in Weißkirchen / Bela Crkva (25.–26. August) und Temeswar erwies es sich als ein identitätsstiftendes, in der Sinnstruktur der Gruppe angelegtes Betrachtungs- und Anziehungsobjekt.
Das Einwanderungsbild – in Anerkennung der territorialpolitischen Veränderungen und regionaler Gruppenbildung zunehmend „Die Einwanderung der Schwaben ins Banat“ bezeichnet – hatte sich einen festen Platz in der symbolischen Konstitution historischer Realität erworben: aus Klassenzimmern, Heimatstuben und Einrichtungen der Minderheit war das Motiv seit Ende der zwanziger Jahre nicht mehr wegzudenken. Die hundertjährige Rezeption des Bildes zeigt, dass die Geschichtsschreibung zwar der wichtigste Produzent von Erinnerung ist, exemplarische literarische und künstlerische Erzählungen das historiographische Narrativ aber an Wirkmacht übertreffen können.

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