Die Vorlage für Jägers „Bettlerjungen“
Bibliografie | |
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Artikel Nummer: | 1332 |
Autor Name: | Wolfgang Gerhard Binder |
Titel des Artikels : | Die Vorlage für Jägers „Bettlerjungen“ |
Untertitel des Artikels: | Leserbrief zu Nikolaus Horn Beitrag „Ein anderer Stefan Jäger“ in der „Banater Post“ vom 15. März 2022 |
Publikation: | Zeitung |
Titel der Publikation: | Banater Post |
Erscheinungsort: | München |
Jahr: | 2022 |
Jahrgang: | 66 |
Nummer: | 11-12 |
Datum: | 15.06.2022 |
Seite: | 7 |
* [[Wolfgang Gerhard Binder]]: [[ART:1332 - Die Vorlage für Jägers „Bettlerjungen“|<i>Die Vorlage für Jägers „Bettlerjungen“</i>. Leserbrief zu Nikolaus Horn Beitrag „Ein anderer Stefan Jäger“ in der „Banater Post“ vom 15. März 2022]]. Banater Post, München 2022 15.06.2022 (Jg.66 Nr.11-12), S. 7 |
Der Kamerad Zufall hat schon vielen Forschern und Entdeckern den Schlüssel zur Lösung ungeklärter Fragen gereicht. Persönlich bewundere ich die akribischen Nachforschungen von Nikolaus Horn zwecks Klärung der Fragen, die sich aus Stefan Jägers „Bettlerjungen“ ergeben: Hat wohl ein Bild dem Banater Maler als Modell gedient oder ist die im digitalen Stefan-Jäger-Archiv unter Nummer 2335 gelistete Aquarellskizze seine eigene Schöpfung? Bei der Lektüre des Artikels „Ein anderer Stefan Jäger“ von Nikolaus Horn, erschienen in der „Banater Post“ vom 15. März 2022, fiel meiner Frau auf, dass uns ein ähnliches Bild von irgendwo bekannt sei.
Wir sind schnell fündig geworden. Seit 1984 befindet sich nämlich in unserer Familienbibliothek eines unserer Lieblingsbücher: „Die Peredwishniki. Genossenschaft für Wanderausstellungen (1870-1923)“, erschienen 1982 im Leningrader Aurora-Kunstverlag. Die Geschichte dieser Genossenschaft als bahnbrechende Epoche der russischen bildenden Kunst ist faszinierend. Mit ihren Ausstellungen, die sie durch viele Städte Russlands gehen ließen, eröffneten die Peredwischniki, die auch die „Wandermaler“ genannt wurden, breiten Massen den Weg zur Kunst. In ihren Bildern – Porträts, Interieurs, Landschafts- und Genredarstellungen, aber auch Historienbilder – spiegelten sie die vielfältigen, großen und kleinen Ereignisse im Leben der Bauern wie der Städter, eigentlich die Lebenswirklichkeit aller Schichten. Bei der Durchsicht der Liste der namhaften, dem Realismus in der russischen Kunst zugeordneten Maler fällt zum Beispiel der Charkiwer Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930) auf. Wer kennt nicht sein monumentales, zu Berühmtheit gelangtes Werk „Die Wolgatreidler“?
Nein: „Der Bettlerjunge“ ist nicht von Repin. Das Modell zu Jägers Bild ist wohl einem uns weniger bekann-ten Wanderaussteller zuzuordnen: Nikolai Petrowitsch Bogdanow-Belski (1868-1945). Er malte hauptsächlich Genrebilder, insbesondere Episoden aus der Erziehung von Bauernkindern, Porträts und impressio-nistische Landschaften. Unter seinen Genrebildern befindet sich eines mit dem Titel „An der Schultür“. Das 1897 angefertigte Gemälde, das sich im Russischen Museum in Sankt Petersburg befindet, könnte Stefan Jäger mit hoher Wahrscheinlichkeit als Vorlage gedient haben.
Die sowjetische Kunstgeschichte übermittelte leider relativ wenig an Informationen zur Biografie von Bogdanow-Belski. Der im Gouvernement Smolensk geborene Bauern-sohn studierte von 1884 bis 1889 an der Moskauer Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur, von 1894 bis 1895 an der Kaiserlichen Akademie der Künste in St. Petersburg und Ende der 1890er Jahre in Privatateliers in Paris. Bogdanow-Belski, der in St. Petersburg tätig war, wurde Mitglied der Künstlergruppe „Peredwischniki“ und beteiligte sich an deren Wanderausstellungen. Da er unter dem jungen Sowjetregime keine gebührende Anerkennung fand, emigrierte er 1921 nach Riga (Lettland). Infolge der sowjetischen Besetzung der baltischen Staaten im Frühjahr 1940 zog Nikolai Bogdanow-Belski nach Posen. Schließlich landete er in Berlin, wo er im Februar 1945 verstarb. Auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin-Tegel erinnert ein Grabstein an den russischen Maler.
Es bleibt Aufgabe der Jäger-Forscher und der Kunsthistoriker, weitere Nachforschungen anzustellen und zu versuchen, die Frage zu klären, auf welchem Weg und wann Bogdanow-Belskis Gemälde „An der Schultür“ Stefan Jäger bekannt wurde. Möglicherweise hat ihn der russische Maler so tief beeindruckt, dass es ihm wert war, eine Kopie des Bil-des anzufertigen.
Dass Bogdanow-Belskis Gemälde „An der Schultür“ (bekannt auch unter der Bezeichnung „An der Tür-schwelle“) als erzieherischer Anreiz in den Berliner Schulen – wahrscheinlich in den Ausmaßen des Originals (173 x 117 cm) – hing, unterstützt wohl auch Nikolaus Horns „Schlussfolgerung“ in seinem Artikel: „Der pädagogische Grundsatz, die erzieherische Idee, liegt in der Thematik der Aquarellskizze: In schwierigen Lebenssituationen hilft nur die Selbstverwirklichung.“ Persönlich erkannte ich in Bogdanow-Belskis Bildern über die russische Dorfschule genau die gleiche erzieherische Idee, die mein Berufsleben im Schuldienst mitprägen sollte. Die Bilder „An der Schulschwelle“, „Aufnahmetag“, „Kopfrechnen“, „Das Schulzimmer“, „Der Aufsatz“, „Beim kranken Lehrer“ usw. eignen sich bestens für den erziehenden Unterricht und nicht zuletzt auch für die Lehrerausbildung.
Wolfgang Gerhard Binder
Anmerkung der Redaktion: Zu diesem Leserbrief erhielten wir folgende Rückmeldung von Nikolaus Horn: „Das von Wolfgang Gerhard Binder angezeigte Bild kann AUSGANG für die Serie der ‚Nachahmer‘ sein. Wie aber der Weg verläuft, bleibt der fehlenden Hinweise und Unterlagen wegen unklar.“